
Organisation: Lukas Kösel (Trier), Aleksandar Georgiev (Freiburg/Trier), René Engelmann (Oldenburg), Katharina Stefaniw (Tübingen)
in Kooperation mit dem Tübinger Forum für Wissenschaftskulturen
Vera autem scientia humiliat.
Idiota de sapientia n. 1, 8-9
Warum treibt der Mensch Wissenschaft? Was genau meint Wissenschaft? Dass Antwortversuche auf diese Fragen historisch gewachsen sind, aber auch stets systematisch aktualisiert werden müssen, scheint häufig in Vergessenheit zu geraten. Übersehen wird vor allem, dass Wissenschaftsgeschichte nicht lediglich aus einer Kumulation von Erkenntnissen besteht, sondern dass das Wissenschaftsbild, in dem die einzelnen Erkenntnisse verortet sind, selbst wandelbar ist. Es kann daher nützlich sein, vormalige Dimensionen wissenschaftlicher Selbstverständnisse nachzuvollziehen, um Impulse bei den eigenen wissenschaftlichen Bemühungen unter anderen Vorzeichen zu erfahren. Vielversprechend erscheint eine Auseinandersetzung mit dem Denken des Nikolaus von Kues. Ursprünglich im Kirchenrecht ausgebildet, befasste sich Cusanus intensiv mit Philosophie und Theologie, aber auch mit Fragen der Mathematik, Astronomie, Philologie und Alchemie. Wirkungsgeschichtlich scheint er auf direkten und indirekten Wegen Pioniere des wissenschaftlichen Weltbildes wie Galilei, Kepler und Descartes geprägt zu haben. Spuren der cusanischen Philosophie finden sich auch später bei Denkern und Forschern über verschiedene Wissenschaften hinweg, darunter Whitehead, C.G. Jung, Lacan, Teilhard de Chardin und Luhmann.
In der Umbruchsphase des Mittelalters zur Frühen Neuzeit nimmt Cusanus eine besondere Stellung ein, die in der Forschung bereits vielfach betont und diskutiert worden ist. Er selbst hat allerdings keine Schrift ›Über die Wissenschaft‹ vorgelegt, was die wissenschaftsgeschichtliche Bewertung seines Denkens erheblich erschwert. Wichtige Ansatzpunkte sind zum einen der cusanische Entwurf eines relationalen und quantitativen Weltbegriffs in seinem Hauptwerk De docta ignorantia. Zum anderen die verstärkte Hinwendung zu den Bedingungen menschlichen Wissens, welches sich in Form von Mutmaßungen (coniecturae) der Wahrheit nur approximativ, in einem nie abschließbaren Erkenntnisprozess zuwenden kann. Wegweisend ist auch Cusanus’ Einschätzung der Mathematik, der er den höchstmöglichen Grad an Gewissheit zuspricht. Besonders ‘modern’ erscheint die cusanische Kosmologie, der zufolge das Universum weder eine Grenze noch einen festen Mittelpunkt hat. Schließlich lässt sich fragen, ob Cusanus die Entwicklung experimenteller Methoden entscheidend vorantreibt und mit seiner Konzeption der messenden Naturbetrachtung in De staticis experimentis einen Paradigmenwechsel gegenüber der hoch- und spätmittelalterlichen Naturforschung einleitet.
Während der Tagung soll in einem interdisziplinären Rahmen das Verhältnis des Cusanus zu den Wissenschaften seiner Zeit und zur Wissenschaft überhaupt systematisch wie auch historisch schärfer konturiert werden. Zur Debatte stehen u.a. folgende Fragestellungen:
- Welche Rückschlüsse lässt uns das Denken von Cusanus im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Philosophie, Theologie und Wissenschaft ziehen?
- Wo und inwiefern kündigen sich Brüche zwischen dem cusanischen Wissenschaftsverständnis und der mittelalterlichen Tradition an?
- Inwieweit ist bei Cusanus die Analyse des Begriffs und der Kriterien von Wissenschaft, ihrer Methoden oder gar eine Systematik der verschiedenen Disziplinen angelegt?
- Wie verhalten sich Cusanus’ Überlegungen zu den einzelnen Disziplinen und ihrem jeweiligen Selbstverständnis sowohl in Bezug auf seine Zeit als auch auf unsere?
- Ist jede wissenschaftliche Erkenntnis letztlich Konjektur? Kommt der Mathematik dabei eine Sonderstellung zu?
- Wie ist das bisher kaum rezipierte, aber doch so umfassende cusanische Predigtwerk im Kontext wissenschaftstheoretischer Überlegungen einzuordnen? Gebraucht und/oder reflektiert Cusanus eine eigene Wissenschaftssprache gegenüber einer Sprache der Predigt, einer religiösen oder eventuell sogar ›mystischen‹ Redeweise?
- Was kennzeichnet wahre Wissenschaft (vera scientia) und inwieweit macht sie demütig (humiliat)?
Montag, 16. Juni 2026
11:00 – 11:15 Lukas Kösel (Trier) & Michael Herrmann (Tübingen): Begrüßung und Einführung
11:15 – 12:00 Isabelle Mandrella (München): Die Einteilung der Wissenschaften bei Nikolaus von Kues
12:15 – 13:00 Viki Ranff (Trier): Scientia in den späten Sermones des Cusanus
13:00 – 15:00 Mittagspause
15:00 – 15:45 Tilman Borsche (Hildesheim): Ist Philosophie eine Wissenschaft? Zur Aktualität der Kontroverse zwischen Nikolaus von Kues und Johannes Wenk von Herrenberg
16:00 – 16:45 Lukas Kösel (Trier): Die doctrina Christi bei Nikolaus Cusanus – eine philosophische Lehre?
Dienstag, 17. Juni 2025
10:15 – 11:00 Andreas Kirchartz (Tübingen): Die Mathematik in der Kosmologie von Platons Timaios und der Docta ignorantia des Nikolaus Cusanus
11:15 – 12:00 Gregor Nickel (Siegen): Von Cusanus’ Grundgedanken zu Galileis Leitsätzen: Eine kontinuierlich-geschichtliche Folge? Überlegungen zu Ernst Cassirers Individuum und Kosmos
12:15 – 13:00 Aleksandar Georgiev (Freiburg/Trier): Zwischen Teilhabe und Funktion. Cusanus’ Begriff des Universums
13:00 – 15:00 Mittagspause
15:00 – 15:45 Christian Ströbele (Stuttgart): In altitudinem intelligentiae: Die Transformation der Wissenschaftstheorie der Theologie bei Cusanus
16:00 – 16:45 Jonas Hodel (Tübingen): Namen, Worte und Begriffe. Cusanus zur Sprache der Wissenschaft
Mittwoch, 18. Juni 2025
10:15 – 11:00 Inigo Bocken (Leuven): Ars coniecturalis als Wissenschaftsbegriff
11:15 – 12:00 René Engelmann (Oldenburg): Species und coniectura – vertritt Cusanus einen fallibilistischen Wissenschaftsbegriff?
12:15 – 13:00 Katharina Stefaniw (Tübingen): Komputistische Spiele? Wissenschaftliche Konzeptionen der Reparatio kalendarii und Coniectura de ultimis diebus
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